Bücherhütte

Foto: Axel Effner, copyright Touristinfo Waging am See
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Foto: Richard Scheuerecker, copyright Touristinfo Waging am See
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Foto: Axel Effner, copyright Touristinfo Waging am See
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Kommt und lest!

Die Bücherhütte von Erika und Franz Aicher in Güßhübel ist für alle offen

Ein Artikel von Simone Bernard

Kirchanschöring. Einen Zaun zu bauen und die Menschen auszusperren ist einfach. Das Gegenteil ist schwerer. „Wir sind auf dem Weg, das Ziel zu erreichen, dass die Leute einfach kommen und sich wohlfühlen“, sagt Erika Aicher. Ihr Mann Franz pflichtet ihr bei: „Man muss die Leute mit der Nase darauf stoßen, dass sie etwas dürfen.“ Bei den Aicher in Güßhübel darf man auf dem Grundstück parken. Sich hinsetzen. Sich eine Brotzeit mitnehmen und essen. In der Sebastianskapelle eine Kerze anzünden. Und Bücher lesen, so viele wie in der kleinen, immer offenen Hütte neben der Kapelle stehen. Wenn man sie wiederbringt, darf man sie auch ausleihen.

Das Häuschen am Rand der Hügelkuppe, ein ehemaliger Kälberstall, war eigentlich als Schafunterstand gedacht. Nur: Die Schafe verschmähten ihn. Also bauten die Aichers dort jedes Jahr zu Weihnachten eine Krippe auf, einmal stand sie sogar bis nach Ostern. „Früher gab es ja auch Passionskrippen“, erklärt Franz Aicher. Seit 2008 steht daneben die Sebastianskapelle. Langsam sprach sich das herum, die Menschen begannen, vorbeizuschauen. „Es gibt tatsächlich eine große Scheu, auf einen ‚privaten‘ Platz zu kommen und sich wohlzufühlen“,meint der 56-Jährige. Diesen Ort, von dem aus man auf den Dachstein, Geißund Schafberg, Zwiesel und Watzmann sieht, wollten sie aber teilen. „Wir sind groß geworden in einer Generation, die Verbotsschilder aufstellt“, sagt Erika, 51 Jahre alt. Sie stellen Schilder auf, wo es zur Kapelle geht. Und hätten am Liebsten das Einbahnstraßenschild weiter unten an der Straße entfernt – momentan biegen viele Radfahrer vor Güßhübel ab.

Im vergangenen Jahr beschloss Erika, einen Teil ihrer Büchersammlung in die kleine Holzhütte auszulagern. „Es ist schade, wenn man sie nur im Haus hat.“ Sie ist mit Büchern aufgewachsen, wie viele sie besitzt, weiß sie nicht. Aber sie stehen in fast jedem Raum des Hauses, sogar auf der Toilette. Als Landschaftsgärtnerin hat Erika im Winter ein bis zwei Monate frei, „dann lese ich, was geht“. Regelmäßig tauscht sie das Inventar der Bücherhütte aus, damit Besucher frischen Lesestoff vorfinden. Großen Wert legt sie darauf, dass kein „Schund“ hineinkommt, obwohl ihr klar ist, dass das eine subjektive Beurteilung ist. Nie würde sie Fantasy oder billige Romane in die Hütte stellen, nie politisch hetzende Literatur – und keine Arztromane.  Kurze Denkpause. „Obwohl
das vielleicht Kult wäre.“ Stattdessen steht eine Reihe Zeitschriften in den beiden Regalen an den Wänden, ein Stapel Fotobände liegt auf der Bank. Daneben Kinderbücher, sie sind Erika besonders wichtig. „111 Orte, die man in Südtirol gesehen haben muss“ teilt sich ein Brett mit „Geheimtipps im Chiemgau“, einem Isabel-Allende-Roman und einem Buch von Hape Kerkeling. Der Luise-Rinser-Weg geht an Güßhübel vorbei, eigentlich ein 11,2
Kilometer langer Rundweg, der über die Bücherhütte aber nur 7,8 Kilometer lang ist. Natürlich hat Erika Bücher der deutschen Schriftstellerin, die während des Kriegs in der Gemeinde lebte. Nach dessen Tod legte sie ein Buch von Günter Grass auf den Tisch, letztes Jahr von Dieter Hildebrandt. Es sind wenige dicke Romane dabei. „Wichtiger sind mir Bücher, bei denen man wiederkommen und einen zweiten Artikel lesen kann.“ Weitere kurze Denkpause. „Wenn man so überlegt, betreibe ich eine ganz schöne Beeinflussung.“

Außer den Büchern liegen Kartenspiele und ein Gästebuch auf dem kleinen runden Tisch in der Hütte. Die Eckbank ist mit Kissen und Wolldecken ausstaffiert, denn es gibt keine Heizung. Viel Platz, sich zu bewegen, bleibt nicht. Auf der überdachten Veranda steht eine große Holzliege. In das Gästebuch tragen sich viele der Besucher ein, ihre Grüße sind von Kinderzeichnungen durchsetzt. Man
erfährt zum Beispiel, dass Sophia 2014 eine „Farattuhr“ zur Bücherhütte gemacht hat. Ein paar Seiten weiter bedankt sich ein Ehepaar, das an der Kapelle Silberhochzeit gefeiert hat. „Man kann hier standesamtlich und kirchlich heiraten“, sagt Erika. Fünfmal ist das bisher vorgekommen, das erste Paar waren 2010 die Aicher selbst.

An Sommer-Sonntagabenden kommt oft eine Gruppe junger Erwachsener vorbei und setzt sich zum Ratschen in die Hütte. „Die räumen super auf“, sagt Erika. Überhaupt: Bisher gingen alle Besucher sehr sorgfältig mit Büchern und Hütte um. „In der Kapelle habe ich Teelichter zum Anzünden, das funktioniert auch.“ Warum alles so problemlos läuft, wissen die beiden selbst nicht genau. „Vielleicht, weil wir das nicht gewerblich machen“, sagt Erika. „Die Menschen haben nicht das Gefühl, einen Anspruch zu haben, sondern wir teilen miteinander.“ Die Besucher kommen längst nicht mehr nur aus Kirchanschöring und den umliegenden Weilern, auch wenn sich die Hütte zu einer Art Treffpunkt für die Nachbarschaft entwickelt hat. Einheimische bringen auch ihren Besuch mit: Es schrieben schon Engländer und Australier ins Hüttenbuch.

Vor Hütte und Kapelle liegt der „Naschgarten“ mit Johannisbeersträuchern und Weinreben. Auch das läuft. „Keiner giert oder schneidet was ab, das ist total
schön“, schwärmt Erika. Die Besucher dürfen auch eine Toilette im Haus benutzen. Franz ist bewusst, dass das ein Fehler im System ist. „Der öffentliche Bereich ist relativ“, sagt er. „Jeder soll kommen, aber eigentlich ist das Haus nicht öffentlich.“

Im Winter ziehen die Bücher um in die umgebaute Tenne, der Kälte und der Feuchtigkeit wegen. Im kommenden Winter soll sie jeden Samstag geöffnet sein. Außerdem wollen Aicher einen Biergarten etablieren, „so wie er früher mal gedacht war“: Sie stellen die Sitzgelegenheiten, Essen muss mitgebracht
werden. Ein Lokal eröffnen wollen sie nicht, die Hürden wären zu hoch. Zwar kann man dieTenne für private Veranstaltungen nutzen, aber eben nur dafür. Zweimal fanden hier schon Krimidinner statt, Silvester warten die beiden einfach, wer vorbeikommt. Und warum sollte man Leuten, die zu Hause den Platz nicht haben, keine große Feier ermöglichen, findet Franz Aicher. Grundsätzlich verlangen sie nichts, nur, dass hinterher wieder aufgeräumt wird. Und das war noch nie ein Problem.

  • Erika und Franz Aicher